Jetzt hat sie mich wieder gekriegt: Mrs. Perfect
Ich verliere mich in Klein – Klein, anstatt das Große im Blick zu behalten. Alles muss schön sein, rund sein, ästhetisch sein. Es muss perfekt sein!
Aber warum nur? Habe ich etwa Angst vor Fehlern? Vor dem Scheitern? Und das ausgerechnet in der Vorbereitung zu meinem neuen Workshop „Mut zum Scheitern“.
Was ist es, das ich mit meinem Perfektionismus verhindern will? Ein Gefühl von Scham kommt bei mir hoch, wenn ich mir vorstelle, was andere über mich denken könnten, wenn ich Fehler mache. Ich – als erfahrener Coach – müsste das doch fehlerfrei hinbekommen.
Ja, wahrscheinlich könnte ich es schaffen. Aber zu welchem Preis? Was würde ich alles nicht erleben, wenn ich immer auf Nummer Sicher gehen würde? Würde ich mich überhaupt noch aus meinen eingefahrenen Strukturen hinausbewegen?
Fehler machen gehört zum Leben dazu. Durch sie lernen wir. Sie sind nicht unsere Feinde, sie sind wertvolle Helfer.
Das allerdings haben wir in unserer Kindheit und im weiteren Verlauf unseres Lebens selten erfahren. Wir wurden gemaßregelt, bestraft, verurteilt und manchem sogar ausgegrenzt, wenn wir Fehler gemacht haben.
Was sind Fehler überhaupt?
Wenn wir von „Fehlern“ sprechen, meinen wir oft ganz unterschiedliche Dinge. Für einen konstruktiven Umgang damit ist es hilfreich, drei Kategorien zu unterscheiden: Fehler, Irrtum und Missgeschick. Jede dieser Kategorien hat ihre eigene Dynamik – und erfordert einen anderen Umgang.
Fehler: Falsche Entscheidung trotz Wissen
Ein Fehler ist eine bewusste Handlung oder Entscheidung, die nicht zum gewünschten Ergebnis führt – obwohl wir grundsätzlich die Kontrolle über unser Tun hatten und im Nachhinein betrachtet bessere Alternativen zur Verfügung standen.
Fehler passieren auf der Handlungsebene: Wir wissen genug, um anders zu entscheiden, tun es aber nicht – aus verschiedenen Gründen.
Typische Ursachen für Fehler:
- Falsche Prioritätensetzung – oder unklare Zielausrichtung
- Bewusst eingegangenes Risiko, das sich nicht ausgezahlt hat
- Überschätzung eigener Fähigkeiten – oder Unterschätzung der Situation
- Handeln trotz unzureichender Prüfung – obwohl Zeit dafür gewesen wäre
- Entscheidung unter Druck – oder getrieben von Perfektionismus
- Ignorierte Warnsignale – das Bauchgefühl wurde überhört
- Handeln aus Gewohnheit – trotz bekannter Alternativen
- Fehlende Kommunikation oder Rücksprache – obwohl sie möglich gewesen wäre
Beispiel: Ich weiß, dass die Präsentation wichtig ist, verschiebe die Vorbereitung aber immer wieder – und stehe am Ende mit ungenügendem Material da.
Irrtum: Falsche Grundannahme über die Realität
Ein Irrtum entsteht, wenn wir in guter Absicht und Überzeugung glauben, richtig zu handeln – die Informationen oder Annahmen, auf denen unser Handeln basiert, jedoch fehlerhaft sind.
Irrtümer passieren auf der Wissens- und Denkebene: Wir handeln logisch und konsequent – aber auf Basis falscher Annahmen.
Typische Ursachen für Irrtümer:
- Unvollständige oder falsche Informationen – die wir für korrekt hielten
- Fehlinterpretationen oder Missverständnisse – etwa in der Kommunikation
- Übertragung alter Erfahrungen auf neue Situationen – die aber nicht passen
- Emotionale Beeinflussung bei der Bewertung – Wunschdenken statt Realitätsprüfung
- Einseitige Sichtweise oder „Tunnelblick“ – wichtige Aspekte werden ausgeblendet
Beispiel: Ich bin überzeugt, dass die Präsentation erst morgen stattfindet – und bereite mich in Ruhe vor. Tatsächlich war sie heute.
Missgeschick: Außerhalb unserer Kontrolle
Ein Missgeschick ist ein unbeabsichtigtes Ereignis, das trotz richtiger Absicht, korrektem Wissen und angemessener Vorbereitung eintritt – weil äußere Umstände oder menschliche Unzulänglichkeiten dazwischenkommen.
Missgeschicke passieren auf der Ausführungsebene: Die Richtung stimmt, aber die Umsetzung scheitert an unkontrollierbaren Faktoren.
Typische Ursachen für Missgeschicke:
Menschliche Grenzen (bedingt kontrollierbar):
- Momentane Ablenkung oder Unachtsamkeit
- Müdigkeit oder Erschöpfung
- Überforderung durch Multitasking
- Mangelnde Koordination oder Konzentration
Äußere Umstände (nicht kontrollierbar):
- Technische oder materielle Pannen
- Zufall, Pech oder unvorhersehbare äußere Einflüsse
- Unerwartete Störungen von außen
Beispiel: Die Präsentation ist fertig vorbereitet, ich bin pünktlich da – aber kurz vor Beginn stürzt mein Laptop ab und die Datei lässt sich nicht mehr öffnen.
Warum sich Fehler und Irrtum oft nicht trennen lassen
In der Praxis bedingen sich Fehler und Irrtum häufig gegenseitig:
→ Ein Irrtum kann Fehler verursachen, weil falsches Denken zu falschem Handeln führt.
→ Ein Fehler kann Irrtümer verstärken, wenn er falsch gedeutet oder emotional überbewertet wird.
→ Beide entstehen aus begrenzter Wahrnehmung – nur auf unterschiedlichen Ebenen:
- Irrtum = falsches Denken über die Realität
- Fehler = falsches Tun trotz verfügbarer Alternativen
Drei Ebenen, drei Umgangsweisen, die Lernaufgaben
- Fehler fordern uns auf, unsere Entscheidungsmuster zu reflektieren
- Irrtümer zeigen uns, wo wir unsere Annahmen prüfen sollten
- Missgeschicke lehren uns Demut und Flexibilität im Umgang mit dem Unvorhersehbaren
Die Unterscheidung hilft uns konstruktiv mit dem umzugehen, was schiefgegangen ist – und dadurch zu wachsen. Viele sogenannten Fehler, Irrtümer oder Missgeschicke haben sich in der Vergangenheit als die größten Geschenke herausgestellt.
Drei Geschichten, die zeigen: Aus „Fehlern“ kann Großes entstehen:
Manchmal sind unsere vermeintlichen Fehltritte die Tür zu etwas völlig Neuem – wenn wir offen genug sind, sie zu erkennen. Die Geschichte kennt einige sensationelle Beispiele:
Ein Missgeschick: Die Entdeckung des Penicillins (1928)
Alexander Fleming, ein schottischer Bakteriologe, verließ 1928 sein Labor im Londoner St. Mary’s Hospital für die Sommerferien. Dabei vergaß er, eine mit krankmachenden Bakterien versetzte Nährbodenplatte aufzuräumen – pure Unachtsamkeit.
Als er zurückkam, hatte sich Schimmel in den Petrischalen gebildet. Fleming bemerkte etwas Erstaunliches: In der Nähe des Pilzes waren keine Bakterien mehr zu finden. Der Pilz produzierte eine bakterienabtötende Substanz, die später Millionen Menschenleben rettete – das Penicillin.
Warum ein Missgeschick? Fleming vergaß die Petrischale, die Verunreinigung durch den Schimmelpilz war purer Zufall. Beides lag außerhalb seiner bewussten Kontrolle. Doch genau diese zufällige Verkettung führte zur Entdeckung des ersten Antibiotikums.
Ein Irrtum: Die Entdeckung Amerikas (1492)
Christoph Kolumbus war überzeugt davon, den Seeweg nach Indien über den Atlantik auf einem schnelleren Westkurs zu finden. Seine Berechnungen des Erdumfangs waren jedoch völlig falsch – er schätzte ihn viel zu niedrig ein.
Am 12. Oktober 1492 erreichte er Land – und glaubte fest daran, in Indien angekommen zu sein. Tatsächlich hatte er einen – für Europäer – neuen Kontinent entdeckt: Amerika. Von seinem Irrtum hat Kolumbus bis zu seinem Tod nie erfahren.
Warum ein Irrtum? Kolumbus handelte in guter Absicht und mit voller Überzeugung. Seine Grundannahme – der Erdumfang – war jedoch fehlerhaft. Er glaubte, den Westweg nach Indien gefunden zu haben, während er in Wahrheit etwas völlig Anderes entdeckte.
Ein Fehler: Die Erfindung von Post-it (1970)
Spencer Silver, Chemiker bei 3M, hatte ein klares Ziel: Er wollte einen Superkleber entwickeln – widerstandsfähiger und stärker als alles Bisherige. Doch im Laufe seiner Experimente erzeugte er genau das Gegenteil: einen Klebstoff, der sich leicht wieder ablösen ließ.
Das Ergebnis entsprach nicht seinem Ziel. Erst Jahre später erkannte sein Kollege Art Fry das Potenzial: Der schwache Kleber war perfekt für wiederverwendbare Notizzettel. Post-it war geboren – und wurde zu einem weltweiten Erfolg.
Warum ein Fehler? Silver hatte Kontrolle über sein Tun und ein klares Ziel vor Augen. Das Ergebnis entsprach nicht seiner Absicht (zu schwacher Kleber statt Superkleber), aber er erkannte das Potenzial zunächst nicht. Erst die neue Perspektive seines Kollegen machte aus dem „Fehler“ eine Innovation.
Fazit
Diese drei Geschichten zeigen uns: Manchmal liegt in dem, was wir als Scheitern bewerten, der Anfang für etwas Neues, Großes, Unerwartetes. Wenn wir bereit sind hinzuschauen – mit Neugierde statt mit Scham.
Wer konstruktiv mit dem umgehen kann, was schiefgegangen ist, kann daran wachsen. Dann ist auch der Blick für die Geschenke möglich, die im vermeintlichen Scheitern liegen.
Also trau dich Fehler zu machen, trau dich zu scheitern.
Du kannst dadurch nur gewinnen!
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