100 Stunden Abschied

Kerze vor glitzerndem, leuchtenden HintergrundVorgestern hat mein Schwiegervater nach 85 Jahren seinen letzten Atemzug hier auf der Erde gemacht. Sein Weg in den vergangenen Jahren war aus unserer Angehörigen-Sicht bis zum Schluss aus gesundheitlichen Gründen eher schwer als leicht. In den letzten Wochen und Monaten waren Krankenhausaufenthalte wegen Stürzen, Kreislaufproblemen und anderen Symptomen fast schon zur Routine geworden.

Mit diesem Eindruck besuchten wir – mein Mann, meine Tochter und ich – ihn auch dieses Mal wenige Stunden nach der Einlieferung, mit gepackter Tasche voll Wechselkleidung. Aber dieses Mal war es anders: In den nächste 100 Stunden sollten wir ein Wechselbad aus verschiedenen Gefühlen durchleben:

Angst / Panik

Bei unserer Ankunft lag mein Schwiegervater in der Notaufnahme. Auf einmal kam Hektik auf. Eine Entscheidung musste getroffen werden, sonst würde er die Nacht nicht überleben. Ein kurzes Telefonat zwischen den Söhnen und die Entscheidung war gefallen – natürlich mit der Angst, ob diese richtig war.

Wut und Fassungslosigkeit

Kurz darauf vermittelte uns der behandelnde Arzt unmissverständlich, dass wir aus seiner Sicht beim letzten Aufenthalt falsch entschieden hätten, indem wir einer Behandlung nicht zugestimmt haben: „Jetzt ist es eh zu spät.“ – Bähm!!! Nebenbei hingeschmissene Worte, die uns wütend und fassungslos zurückließen. Nie wurde eine Entscheidung von uns leicht getroffen.

Hilflosigkeit / Ohnmacht

Auf dem Weg in ein Zimmer auf der Station verschlechterte sich Hans-Jürgens Zustand, sodass mein Mann und ich entschieden, die restliche Familie dazu zu holen. Wir konnten nur zusehen, wie er von den Pflegerinnen sehr behutsam mit verschiedenen Maßnahmen versorgt wurde.

Dankbarkeit

Unser Hund musste für die Nacht untergebracht werden und meine Schwester und meine Nichte erklärten sich mitten in der Nacht bereit, ihn zu sich zu holen.

Traurigkeit

Zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter, zwei Enkelkinder am Bett eines besonderen, lieben Menschen versammelt, tief traurig und berührt, um ihm die letzten Minuten zu begleiten.
Dachten wir.

Erstaunen

In der Nacht hielten wir uns alle im Zimmer auf. Erst gegen drei Uhr morgens entschloss ich mich, mit unseren Kindern nach Hause zu fahren, ein paar wenige Stunden zu schlafen und dann wiederzukommen. Wir wechselten uns auch am kommenden Tag und der kommenden Nacht ab.

Wir konnten es nicht glauben: Der Zustand meines Schwiegervaters stabilisierte sich von Stunde zu Stunde – auf sehr niedrigem Niveau. Auch zum Erstaunen der Ärzte. Die Richtung, die er gehen würde, wäre aber noch die gleiche.

Machtlosigkeit / Ungeduld / Scham

Nach 48 Stunden des Bangens und Abschiednehmens diese Wendung! Auf einmal wurde er wieder wacher und ansprechbarer. Außer uns um den schwachen Menschen liebevoll zu kümmern, konnten wir nichts tun. Ich übernahm gerne diese Aufgabe. Irgendwann ertappte ich mich aber bei den Gedanken „Wie lang soll das noch dauern?“, „Wie lange können wir das noch so durchhalten?“ Und einem Gefühl von Ungeduld. Ich schämte mich abgrundtief dafür.

Frieden

Dieser innerliche Aufwecker durch meine Gefühle brachte mich dann endlich in einen Frieden mit der Situation. Wie viel ruhiger ich auf einmal alles handhaben konnte. Keine Angst mehr, keine Erwartungen, keine Hilflosigkeit.
Ich konnte einfach nur da sein – für den besten Schwiegervater der Welt.

Fassungslosigkeit

Sein letzter Schritt war dann doch für uns alle unerwartet plötzlich. Auch wenn wir wussten, dass dieser Moment kommt, waren wir von der Geschwindigkeit, in der sich sein Zustand verschlechterte überraschend. Auf einmal war er tot – und wir fassungslos.

Trauer

Auch wenn wir viel Zeit zum Abschiednehmen hatten, weiß ich, dass die Zeit der Trauer für mich noch nicht zu Ende ist. Jeder trauert anders, jeder braucht seine eigene Zeit. Und das ist in Ordnung.

Berührung

Viele Stunden saßen meine beiden Kinder mit ihren 17 und 19 Jahren am Bett ihres Opas. Der Anblick war bestimmt eine Herausforderung für sie. Ich bin so tief berührt, wie liebevoll und stark sie diese Zeit gemeistert haben.

Das Geschenk: Zusammenhalt / Dankbarkeit

Ich glaube, mein größtes Geschenk in dieser Zeit war die Erkenntnis, wie stark der Zusammenhalt in unserer Familie wieder ist. Und ich bin dankbar, dass so viele liebe Menschen uns in dieser Zeit ihre Hilfe angeboten haben.

Mein besonderer Dank gilt auch den wundervollen Pflegerinnen, die uns Angehörige in dieser schweren Zeit so herzlich unterstützt haben und einen ihnen fremden Menschen so liebevoll, feinfühlig und respektvoll behandelt haben.

Schlussworte

Die Achterbahn dieser starken Gefühle innerhalb von 100 Stunden war Herausforderung und Geschenk in einem.

Gefühle fühlen und zulassen und anerkennen, was gerade da ist, ist eine nicht immer leichte Aufgabe. Aber es lohnt sich, sie anzunehmen. Denn je mehr wir lernen, unsere Gefühle wahrzunehmen und sie zu würdigen, desto weniger Macht haben sie über uns.

Lieber Hans-Jürgen, es war kein Zufall, dass wir uns kennengelernt haben. Komm gut Zuhause an. ♥️

 

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